Frau M. kam gemeinsam mit ihrem Ehemann in unsere Klinik. Sie litt an einer weit fortgeschrittenen Demenz und konnte nicht länger allein zu Hause bleiben. Als sie bei uns ankam, saß sie still, zurückgezogen und scheinbar teilnahmslos in ihrem Rollstuhl. Die Welt schien weit entfernt. Doch jedes Mal, wenn ihr Mann den Raum betrat, begannen ihre Augen zu leuchten. In seiner Nähe fühlte sie sich sicher. Doch ihr Ehemann musste an seinen eigenen Therapien teilnehmen, was bedeutete, dass er nicht durchgehend bei ihr sein konnte. Um einen Zugang zu Frau M. zu finden, suchte ich das Gespräch mit ihrem Mann. Ich fragte nach ihrem früheren Beruf, nach Interessen und Hobbys. Er erzählte mir, dass sie früher sehr gerne gemalt habe, aber schon seit vielen Jahren keinen Pinsel mehr in der Hand gehalten hatte.
Er erzählte mir, dass sie früher sehr gerne gemalt habe, aber schon seit vielen Jahren keinen Pinsel mehr in der Hand gehalten hatte. Diese Information war ein Schlüssel.
Diese Information war ein Schlüssel. Ich lud Frau M. zu unserem "Kreativen Angebot" ein – einem Gruppenangebot, das wir speziell für unsere Patienten mit kognitiven oder motorischen Einschränkungen anbieten. Die Ziele reichen von der Verbesserung der Feinmotorik über die Unterstützung bei der Planung von Handlungsabläufen bis hin zur psychischen Stabilisierung und der Schaffung von Erfolgserlebnissen. Wir arbeiten mit verschiedenen kreativen Werktechniken – angepasst an die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Patienten. Da Frau M. von sich aus keine eigene Auswahl treffen konnte, habe ich ihr ein Bild mit Serviettentechnik angeboten. Dabei wird ein vorgefertigtes Serviettenmotiv auf einen Keilrahmen aufgebracht und mit Strukturpaste kreativ ergänzt. Wir sahen gemeinsam mehrere Motive durch, bis sie plötzlich auf ein Bild zeigte – eine mediterrane Landschaft, vielleicht aus der Toskana. Als ich die Serviette wie geplant aufkleben wollte, lehnte sie überraschend ab und deutete auf die Farben auf dem Tisch. Also reichte ich ihr Pinsel und Farben – und Frau M. begann das Serviettenmotiv auf den Keilrahmen zu zeichnen. Sie wurde in den Handlungen immer sicherer und ihre Gesichtszüge entspannten sich. Mit jedem Pinselstrich veränderte sich etwas: ihre Haltung, ihr Gesichtsausdruck, ihre Augen. Sie wirkte wacher, präsenter, als würde sie Stück für Stück zu sich selbst zurückfinden. Sie freute sich über die bewundernden Kommentare der Mitpatienten. Als sie das Bild fertiggestellt hatte, trug sie es mit großer Sorgfalt in ihr Zimmer. Dort wartete ihr Ehemann. Mit strahlenden Augen überreichte sie ihm das Gemälde. Er war sichtlich gerührt, fast sprachlos. Als er das Motiv näher betrachtete kamen ihm die Tränen: das Motiv erinnerte ihn an ihre Hochzeitsreise. In dem Blick, den sich beide dann zuwarfen spürte ich das Glück, die Verbundenheit und die Liebe die die beiden miteinander verbindet. Trotz aller Krankheit, trotz allem Vergessens blieb etwas, das sie verband – eine gemeinsame Erinnerung, ein Gefühl, das nicht verging. Dieser Moment hat mich tief berührt.
Manchmal braucht es nur einen Pinselstrich, um das Unsichtbare wieder sichtbar zu machen.
Christina Sievers, Therapieleitung Ergotherapie