Vor über 40 Jahren wurde in Bad Neustadt die Herz- und Gefäß-Klinik gegründet – ein mutiger Schritt fernab der Uni-Kliniken. Seitdem wurden über 150.000 Herzoperationen durchgeführt. Dr. Fitsum Lakew, Oberärztin in der Klinik für Herzchirurgie am RHÖN-KLINIKUM Bad Neustadt, hat die Mitralklappenchirurgie maßgeblich mitentwickelt. Ursprünglich kam sie in den 90er-Jahren eher zufällig zur Herzchirurgie, heute gilt sie als Expertin in der Mitralklappenchirurgie. Im Interview spricht sie über ihren Weg, Herausforderungen als Frau in der männerdominierten Chirurgie und die Bedeutung des persönlichen Patientenkontakts.
INTERVIEW MIT DR. MED. FITSUM LAKEW, OBERÄRZTIN KLINIK FÜR KARDIOCHIRURGIE AM RHÖN-KLINIKUM CAMPUS BAD NEUSTADT
Nach dem Medizinstudium in Erlangen haben Sie als Assistenzärztin in der Kinderklinik St. Augustin bei Bonn gearbeitet. Seit Ihrer Zeit dort bis heute haben Sie sich der chirurgischen Behandlung von Herzerkrankungen gewidmet. Wie kam es dazu?
Dr. Lakew: Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich zur Herzchirurgie gekommen bin, weil in den 90er Jahren keine Stelle in der Allgemeinchirurgie zu bekommen war. Mein ursprünglicher Plan war, Allgemeinchirurgie zu machen, insbesondere abdominelle Chirurgie. Aber ich habe nur eine Stelle in der Herzchirurgie gefunden. Wie ich damals fand, eigentlich eher als Übergangslösung. Aber nach zwei Jahren in St. Augustin, wo ich den damaligen Chefarzt, Dr. Urban pädiatrische Erkrankungen und angeborene Herzfehler im Kindesalter habe operieren sehen, habe ich doch meine Liebe für die Herzchirurgie entdeckt. Ich bin von der Kinderherzchirurgie in die Erwachsenenherzchirurgie gewechselt. Zunächst war das nur gedacht als Überganglösung zum Einüben von Techniken, Kanülierungen und Behandlungen von Erwachsenen, um dann wieder zurück zu den pädiatrischen angeborenen Herzfehlererkrankungen zu gehen.
Was hat Sie 1992 nach Bad Neustadt geführt?
Dr. Lakew: Mein damaliger Chef, Dr. Urban, hat Prof. Hacker kontaktiert, den er kannte und gefragt, ob ich zur Ausbildung in die Erwachsenenherzchirurgie nach Bad Neustadt kommen könnte. So hat er mich hierher empfohlen.
Hatten die Chefärzte in den 90er Jahren ein offenes Ohr für den Berufswunsch Herzchirurgin? Wie war das bei Ihnen?
Dr. Lakew: Beim Einstellungsgespräch mit Prof. Hacker in Bad Neustadt ist der Satz gefallen, den er wohl allen weiblichen Assistenzärztinnen gesagt hat: „Sie werden in der Herzchirurgie sowieso nicht viel erreichen.“ Das hat er mehrfach auch anderen Kolleginnen gegenüber geäußert. Ich habe auch gemerkt, dass es am Anfang sehr zäh war, bis ich assistieren und dann selber operieren durfte. Das ist schon so. Es hat sich am Anfang ziemlich hingezogen. Aber nachdem ich hier Fuß gefasst habe und zunächst angeborene Herzfehler im Erwachsenenalter operiert (ASD) habe, hat er doch immer mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten gehabt. Wohl auch die Zuversicht, dass ich auch Herzerkrankungen im Erwachsenenalter gut schaffe. Aufgrund dieses Vertrauens, habe ich zum Schluss seiner Chefarztzeit bis zu drei aortokoronare Bypass-Patienten am Tag operiert.
Seit über 30 Jahren sind Sie jetzt schon in Bad Neustadt. Jedes Wochenende pendeln Sie zur Familie an Ihren alten Studienort – war ein Wechsel zurück nach Erlangen nie ein Thema? Oder anders gefragt: was hat Sie solange in Bad Neustadt gehalten?
Dr. Lakew: Tatsächlich habe ich auch gedacht, dass ich hier in Bad Neustadt nur zwei Jahre bleibe und dann entweder nach St. Augustin zurückkehre oder in Richtung Erlangen oder Nürnberg weiterziehe. Nachdem ich aber hier so gute Arbeitsbedingungen und Kollegen angetroffen habe, war ein Wechsel nach Erlangen für mich nie ein Thema. Eine Rolle hat sicher auch die Mitralklappenchirurgie gespielt. Als Prof. Diegeler Chefarzt wurde, hat er Fokusgruppen für die Kardiochirurgie gebildet. Ich kam in die Mitralklappen-Fokusgruppe. Das hat sich für mich als segensreich erwiesen, da die Mitralklappenrekonstruktion ein gutes räumliches Denkvermögen erfordert und auch großes chirurgisches Geschick. Ich hatte auch einen sehr guten Lehrer in Sachen Mitralklappenchirurgie, Dr. Perier. Prof. Diegeler hat mich für zwei Monate nach Leipzig geschickt, damit ich dort die minimal-invasive Mitralklappenchirurgie erlerne und hier in Zusammenarbeit mit Dr. Perier einführe. Diese Kooperation hat ganz gut geklappt, sodass wir jetzt im Moment alle Patienten, die für eine Mitralklappenrekonstruktion und inzwischen auch für eine Mitral- und Tricuspidalklappenrekonstruktion kommen, in minimal-invasiver Technik operieren. Dieser Fortschritt in der Entwicklung meiner chirurgischen Fähigkeiten sowie dann in der MitralklappenFokusgruppe eingegliedert zu werden, hat mich doch sehr fasziniert. Die verschiedenen Aspekte der Mitraklappenchirurgie sind doch so fesselnd, dass mein Interesse an der Herzchirurgie eigentlich nicht nachgelassen hat. Wie jeder Mensch ein einzigartiges Gesicht hat, obwohl wir alle zwei Augen, eine Nase und einen Mund haben, ist jede Mitraklappe eine andere. Für jede Mitralklappe muss man sich neu einstellen und neu eindenken, um eine gute Rekonstruktion zustande zu bringen.
Die Chirurgie gilt immer noch als Männerdomäne mit einem Frauenanteil von nur etwa 20 Prozent - und das, obwohl mittlerweile der Großteil der Medizinstudierenden weiblich ist. Haben Frauen im Fach (Herz-)Chirurgie heute immer noch mit Vorbehalten zu kämpfen?
Dr. Lakew: Die Chirurgie ist eine Männerdomäne, und das ist sie bis heute. Frauen werden von der Chirurgie eher abgehalten, obwohl 70 Prozent der Medizinstudierenden weiblich sind. Es zeigt sich aber, dass sich in naher Zukunft wohl mehrere Chefärztinnen in der Herzchirurgie etablieren werden. Der Weg ist wahrscheinlich aber noch ein sehr langer, bis – der Bevölkerung entsprechend – 50 Prozent aller Chefarztpositionen von Frauen besetzt sind. Derzeit ist es leider noch, dass Frauen immer noch mit Vorbehalten in der Chirurgie und insbesondere in der Herzchirurgie zu kämpfen haben.
Sie haben in Bad Neustadt die Mitralklappenchirurgie, insbesondere die Mitralklappenrekonstruktion, maßgeblich mit aufgebaut. Wie konnte eine Klinik in der Provinz führend auf dem Gebiet der Mitralklappenchirurgie werden? Wer waren die treibenden Kräfte?
Dr. Lakew: So eine Klinik in der Provinz, wie sie hier in Bad Neustadt ist, konnte führend in der Mitralklappenchirurgie werden, weil Prof. Hacker damals Dr. Perier, der Oberarzt bei Prof. Carpentier in Paris war, überredet hat, hier in unserer Klinik den Posten eines Oberarztes zu übernehmen. Prof. Carpentier ist weltweit berühmt als erster Mitralklappenrekonstrukteur. Er hat sehr viele Techniken erfunden und entwickelt und hat sehr viele Jahre äußerst aktiv die Mitraklappenrekonstruktion bestimmt. Dr. Perier war sein Schüler und hat diese Mitralklappenchirurgie hier etabliert, weiterentwickelt und seinen Stempel aufgesetzt. In diese Chirurgenfolge kann ich mich stolz eingliedern. Ich habe alle Techniken, die ich über Mitraklappen gelernt habe, von Dr. Perier gelernt. Dadurch, dass wir einen so renommierten Chirurgen an diesem Standort hatten, ist Bad Neustadt über die Grenzen, auch von Deutschland hinaus, für die exzellente Mitraklappenchirurgie bekannt.
Heute werden Mitralklappen in Bad Neustadt, wenn möglich rekonstruiert, meist geschieht das minimal-invasiv. Wie sehen Sie die neueren Entwicklungen in der Mitralklappenchirurgie, wie z.B. MitraClip®-Eingriffe?
Dr. Lakew: Von den Patienten die elektiv zu einer Mitralklappenrekonstruktion kommen, werden bei uns über 90 Prozent rekonstruiert, überwiegend auch minimal-invasiv. Wie sich die Herzchirurgie für die Mitralklappenchirurgie entwickelt ist schwer vorauszusehen, weil es keine sehr guten Rekonstruktionstechniken gibt, die die eigentliche Operation ersetzen. Der MitraClip® wird weltweit eingesetzt für Patienten, die für eine Rekonstruktion nicht geeignet sind. Das ist eine sehr gute Alternative in Fällen, wo Komorbiditäten eine Operation, auch eine minimal-invasive, unmöglich machen. Wenn es ein effektives Mitralklappenersatzprogramm, ohne Herz-Lungen-Maschine gäbe, ich glaube, das könnte eine Zukunft haben. In diesem Bereich ist aber noch nicht genug geforscht worden und es gibt im Moment auf dem Markt keine effektiv einsetzbare Klappe.
Sie sind nicht nur eine ausgewiesene Expertin in der Mitralklappenchirurgie. Die Patienten schätzen Sie darüber hinaus auch für Ihre Empathie. Wie wichtig ist Ihnen der Kontakt mit Patienten?
Dr. Lakew: Durch die 32jährige Beschäftigung in dieser Klinik habe ich gelernt, dass ein guter Kontakt zu den Patienten ein sehr wichtiger Bestandteil der Therapie ist. Nicht nur, dass man den Patienten und seine Krankheit kennenlernt. Sondern auch, dass man die Patienten psychisch einen gewissen Weg lang - solange sie in der Klinik sind und manchmal auch darüber hinaus - begleitet, weil die Erkrankung doch sehr tiefe Veränderungen im Leben der Patienten bedeutet. Ich versuche die Patienten so gut wie möglich in diesem Prozess zu begleiten.